Sehr geehrter Herr Professor Schmidt-Bergmann,
Sehr geehrter Herr Rahner,
Sehr geehrte Schulleitung,
Liebe Lehrerinnen und Lehrer,
Liebe Eltern und Verwandte,
Liebe Mitabiturientinnen und Mitabiturienten,
Zunächst einmal möchte ich sagen, dass es mir eine Freude ist, den Scheffel-Preis entgegen nehmen zu dürfen.
„Wow!“ – Das war wohl auch meine erste Reaktion, als Herr Utkubas mich über mein Glück, diesen Preis zu bekommen, unterrichtete. -Wobei unterrichten hier wohl das falsche Wort ist. Denn ‚unterrichtet‘ hat er mich in diesem Moment genauso wenig, wie er uns in den vergangenen drei Jahren im Fach Deutsch ‚unterrichtet‘ hat.
Nein, er hat uns nicht ‚unterrichtet‘, sondern uns vielmehr auf Augenhöhe berichtet und bereichert. Berichtet, was es mit den Geschichten, Gedichten und Lektüren auf sich hat, derer wir uns alle mehr oder weniger erfreuen durften. Bereichert, indem er mit uns gegrübelt und gelacht, mit uns diskutiert und philosophiert hat und vor allem: uns nicht dazu verdammt hat, die Dinge, die wir lernen sollten als gegeben hinzunehmen, sondern sie zu hinterfragen; uns selbst zu ihnen zu befragen. Worauf es ihm immer besonders ankam, war der kritische Geist.
Denn in Deutsch geht es eigentlich nie darum, nur aus dem Schulbuch auswendig gelernte Lösungen in angepasster Form wieder auszuspucken.
Stattdessen geht es vielmehr darum, die Welt, wie sie in Lyrik, Prosa und Poesie dargestellt wird, auf sich wirken zu lassen. Ja, zuzulassen, dass sie nicht nur auf einen wirkt, sondern vielleicht sogar etwas in einem bewirkt, etwas in einem in Gang setzt und verändert.
Zuzulassen, dass diese Kunstwerke uns einerseits in Fesseln legen, an uns ziehen wie ein Sog, wie ein Meeresstrudel, aus dem einen niemand mehr retten kann,
ein Meeresstrudel, dem man erst folgen muss bis auf den Grund, bis auf den Grund des Werkes, das man liest, bevor man wieder an die Oberfläche zurückkehren kann, um Luft zu holen.
Ja, und andererseits der Literatur erlauben, uns Flügel zu geben, um aus dem Alltag zu entfliehen, um wortwörtlich aus dem Alltag zu entfliegen: Wie heftige Windböen ergreifen einen die Sätze dann, tragen einen weit hinaus in den Himmel und direkt durch die Wolken, die im Alltag manchmal die Sicht versperren auf das, was außerhalb unseres eigenen Blickfeldes noch alles möglich ist.
Die Wörter in einem Buch sind für mich dann beinahe wie die Sterne am Nachthimmel: Sie bringen Licht in die Unendlichkeit des Weltalls, die sich in den Gedanken und in der Fantasie eines jeden einzelnen Menschen widerspiegeln kann.
Der einzige Unterschied zwischen jener Unendlichkeit, die unsere Erde umgibt und jener Unendlichkeit, die in unserer Fantasie und Gedankenwelt schlummert ist, dass uns in letzterer keinerlei Grenzen gesetzt sind, wie weit wir gehen können.
Zu schreiben hingegen bedeutet, sich dieser Unendlichkeit zu stellen.
- Und zwar alleine.
In das unendliche Weiß hineinzulaufen wie in eine Wand aus dichtem Nebel, der zielstrebig durch jedes Wort, das unser Stift in dieses Weiß, auf das Blatt schreibt, durchbrochen wird:
Schritt für Schritt, Wort für Wort erhaschen wir dann plötzlich einen Blick auf eine Welt, die genauso individuell und einzigartig ist, wie unsere Erde – nämlich auf unser eigenes Selbst.
Wo immer auch ihr in der Zukunft also hingehen, so verloren ihr euch vielleicht zwischendurch einmal in einem Studiengang oder Beruf fühlen solltet, vergesst nicht,
dass euch in diesem scheinbaren Nebel der Stift eine Laterne sein kann, die mit jedem Wort der Selbstreflexion, das ihr niederschreibt, einen deutlicheren Blick auf die Karte eurer eigenen kleinen Unendlichkeit, eures Selbst inmitten dieses Wirrwarrs unserer Welt freigibt und euch zeigt, in welche Richtung ihr gehen müsst, um den Weg dorthin zurück zu finden.
Wie ihr nun wahrscheinlich bemerkt habt, ist die Literatur ein ganz besonderer Schatz für mich, und das Schreiben eine beinahe magische Fähigkeit des Menschen…
Gerade deswegen war und ist es mir auch eine besondere Ehre, für diese, meine Passion hier stehen zu dürfen.
Tatsächlich hat sich jedoch, eben weil es mir doch eigentlich so wichtig ist, dieses ‚dürfen‘ immer mehr in ein ‚müssen‘ verwandelt, je länger ich über den Inhalt dieser Rede nachdachte und darüber, wie ich euch und Ihnen allen damit gerecht werden könnte…- aus jener Angst heraus, nicht die Leistung erbringen zu können, die von mir erwartet wird.
Ich bin mir sicher, dass ihr diese Angst kennt.
Dass sich fast jeder von euch in den letzten drei Jahren, die wir zusammen durchgestanden haben, einmal – oder auch öfters - so überfordert gefühlt hat, dass er kurz davor war, einfach alles hinzuschmeißen…
Ich würde euch – und auch mir selbst - jetzt gerne sagen, dass wir es ja nun geschafft haben und diese miese Angst vor dem Scheitern hinter uns lassen können. Aber das wäre gelogen. Das können wir jetzt nicht und das werden wir auch nach der Ausbildung oder nach dem Studium nicht tun können, ja, höchstwahrscheinlich nicht einmal später in unserem Beruf.
Und gerade deswegen habe ich mir gesagt und möchte ich nun auch euch sagen:
Lasst euch von der Angst davor, zu verlieren, nicht davon abhalten zu kämpfen.
Lasst nicht zu, dass die Angst davor, zu verlieren, euch vergessen lässt, zu gewinnen!
Natürlich ist das leichter gesagt als getan.
Und trotzdem bin ich überzeugt, dass gerade wir dazu imstande sind, diesem Aufruf zu folgen und für unsere Ziele zu kämpfen.
Woher ich das so genau wissen will, fragt ihr euch nun vielleicht…
Werfen wir dafür einen Blick auf unsere Vergangenheit:
Wir schienen fast alle nicht prädestiniert für das Gymnasium, haben einen Umweg gemacht und doch stehen wir heute hier mit unserem Abitur in den Händen. Ja, vielleicht stehen wir sogar gerade deswegen heute hier!
Weil wir es geschafft haben, trotz anderer Interessen, die uns vielleicht zunächst von der Schule abgelenkt haben, unser Abitur zu machen.
Diese ‚Ablenkungen‘ sollten wir unbedingt beibehalten – denn was zu manchen Zeiten Ablenkungen sein können, werden zu anderen Zeiten überlebenswichtige ‚Zurücklenkungen‘. ‚Zurücklenkungen‘ zu der Person, die wir wirklich sind, ‚Zurücklenkungen‘ in das Leben, das wir eigentlich führen wollen und doch manchmal vergessen.
Tatsächlich ist mir das gerade durch die Lektüre des Steppenwolfes und vor allem durch die darin enthaltene „Schachspiel-Metapher“ so bewusst geworden:
Nach dieser Metapher entsteht wahres Glück erst durch die Vielfalt der Lebensbereiche und durch eine Persönlichkeitsentwicklung, die nicht nur auf qualitativer, sondern auch auf quantitativer Ebene stattfindet, so dass man die verschiedenen Persönlichkeitsanteile, die man in sich trägt, je nach Situation neu ausrichten, positionieren und einsetzen kann - wie die Figuren bei einem Schachspiel.
Einem Schachspiel, das in uns selbst liegt und uns – je besser wir es beherrschen – die Türen zum Glück immer weiter öffnet:
Uns damit einlädt in eine Welt, in der wir nicht dazu verdammt sind, uns selbst und unsere Leidenschaften zu verleugnen und zu vergessen,
sondern in der wir uns unserer selbst und unserer Leidenschaften immer weiter erinnern und erfreuen dürfen, um aus ihnen - aus der Vielfalt an Persönlichkeitsanteilen - jene Schachfiguren zu schaffen, ohne die auch nachhaltige akademische Leistungen glaube ich kaum möglich sind.
In diesem Sinne wünsche ich euch allen nicht nur kurzweiliges Glück,
sondern vor allem langanhaltende Zufriedenheit für das Leben, das ihr aufbaut und ausbaut – aber hoffentlich auch nie müde werdet umzubauen.
Genießen wir es, wann immer wir können.
Vielen Dank für Ihre und eure Aufmerksamkeit!