Liebe Mitabiturientinnen und Mitabiturienten,
sehr geehrte Schulleitung,
liebe Lehrerinnen und Lehrer und
liebe Gäste,
für mich ist es etwas ganz Besonderes, hier stehen zu dürfen und die Ehre zu haben, die Scheffelpreisrede zu halten. Denn damit verbinde ich nicht nur Freude und Stolz, sondern auch die Reise, die ich hier auf dieser Schule erleben durfte. Deshalb möchte ich diese Möglichkeit nutzen, um meine ganz persönlichen Erfahrungen mit euch zu teilen, wie die Welt der Bildung, insbesondere die der Literatur, meinem Leben einen neuen Sinn und Leidenschaft verliehen hat.
Doch dies war nicht immer so, denn bis zur zwölften Klasse lehnte ich die Schule, besonders den Deutschunterricht aus tiefstem Herzen ab und wollte darin keinen Sinn erkennen. In unserer Gesellschaft, die von Leistungsdruck und Nützlichkeit dominiert wird – neigen wir schnell dazu Bildung lediglich als Mittel zum Zweck zu betrachten, als etwas, das uns auf die Arbeitswelt vorbereiten soll und unseren Lebenslauf schmückt. Da ist es kein Wunder, dass ich mir wie viele von euch die Frage stellte, welchen direkten, anwendbaren Nutzen all dieses Wissen nur für mein Leben hat?
In diesem Zustand der Frustration, hatte ich den Entschluss gefasst, nicht mehr zur Schule zu kommen. Mein Klassenlehrer, Herr Sauer bat mich zu einem Gespräch, in dem er den entscheidenden Satz sagte, nämlich, dass er sich einen riesigen Vorwurf mache, wenn ich es nicht schaffe, mich der Schule zu öffnen und deshalb dieses Abitur nicht machen könne. Diese einfachen Worte haben mich zum Umdenken gebracht. Wir sind zu jung, um uns wie Harry Haller, dem Protagonisten aus einer unserer Pflichtlektüren, für neue Einsichten, neue Liebe und neues Verständnis zu verschließen. Zu jung, um nicht zu entdecken, welch eine Person man werden könnte, wenn man nicht alles dem Nützlichkeitsgedanken unterwerfe.
Ich erkannte, dass Schule keinen öden Bildungsstoff vermittelt, der dazu dient, uns ausschließlich auf einen bestimmten Broterwerb vorzubereiten. Vielmehr geht es darum, uns die eigene Gesellschaft erst verständlich zu machen und, wie geistiges Menthol, den Sinn dafür zu wecken, eine eigene Identität zu entwickeln – damit man die Schönheit im vermeintlich Nutzlosen entdeckt. Denn dort fand ich die goldene Spur, die uns, hinaus aus unserem Alltag, zu etwas Höherem führen kann. Die Pflichtlektüren wurden zu Lebenslektüren.
Als Abiturienten befinden wir uns in einem ständigen Identitätskrieg. Wir durchlaufen einen Lebensabschnitt, indem wir uns neu kreieren, unsere festgefahrenen Strukturen aus Schule und Elternhaus nun anfangen zu zerbrechen. Wie auch die Protagonisten der Pflichtlektüren befinden wir uns in einer Identitätskrise und bemühen uns, einen Sinn in unserem Leben und Tun zu finden. So hasst Harry Haller vor allem die „Zufriedenheit, diese Gesundheit, Behaglichkeit, diesen gepflegten Optimismus des Bürgers, diese fette, gedeihliche Zucht des Mittelmäßigen, Normalen und Durchschnittlichen“. Und wenn wir nun in die Zukunft blicken, dann haben viele von uns wohl auch Angst solch ein durchschnittliches Leben zu führen wie einer der Philister im Goldenen Topf. Jene, die sich beim kleinsten Kontrollverlust stets um eine Wiederherstellung von Ordnung und Sicherheit bemühen.
Und so fiel es mir in der Schule auch nicht immer einfach, den Zwängen der Konformität zu unterliegen. Nicht das zu sagen, was man denkt, sagen zu müssen, nur um eine gute Note zu erhalten. Sondern dazu zu stehen, welche persönlichen Ansichten und Ziele man vertritt. Somit ist mein Blick in die Zukunft auf der einen Seite mit Ehrfurcht davor verbunden, dass einen einmal die Banalität des Alltags einholen und man in einen schmerzhaften Konflikt zwischen den Arbeitspflichten und seinen Neigungen kommen wird.
Gleichzeitig finde ich auf der anderen Seite auch die Zuversicht durch meine Erkenntnis aus dem Werk „der Goldne Topf“, in dem E.T.A Hoffmann für die Gleichberechtigung von Innen- und Außenwelt, von Realität und Fantasie plädiert. Die Innenwelt führt ohne die Berücksichtigung der Außenwelt zum Wahnsinn. Ein Leben allein in der Außenwelt führt hingegen zu Banalität und geistiger Verkümmerung. Beide Dimensionen sind gleichermaßen lebensnotwendig. Und so dürfen wir in unserem Leben unsere Fantasie nicht von dem Verstand ersticken lassen und auch nicht umgekehrt.
Der Deutschunterricht lehrte uns, mit einer Brille der Fiktion einen geschärften Blick auf die Realität und auf uns selbst zu werfen. Und somit liegt es in unseren Händen, was wir mit dieser Fähigkeit erreichen können. So sollten wir das Ende der Schulzeit gleichzeitig auch als Neuanfang betrachten, bei dem wir die Möglichkeit bekommen eine neue Identität zu erschaffen. Dazu sagte Perikles zu Recht: „Das Geheimnis des Glücks ist die Freiheit, das Geheimnis der Freiheit ist aber der Mut“.
Ich möchte allen Lehrerinnen und Lehrern meinen aufrichtigen Dank aussprechen, die nicht nur ihren Bildungsauftrag wahrgenommen haben, sondern uns auch auf unserer persönlichen Reise begleitet und geprägt haben. An alle Lehrerinnen und Lehrer, die alles dafür getan haben, dass man als Schülerin an die Grenzen kommt und insbesondere bedanke ich mich bei meiner Deutschlehrerin Frau Mormino, die mich und meine Klasse in den letzten drei Jahren mit dem Fach Deutsch vertraut gemacht hat und die Freude an der deutschen Sprache weitervermitteln konnte. Ich wünsche euch noch einen unvergesslichen Abend und eine wunderbare Zukunft.
von Anne-Kathrin Huber, Scheffelpreisträgerin